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18 Januar 2008

Desiderata

Gehe gelassen durch das Lärmen und Hasten und vergiss nicht, welcher Friede im Schweigen sein kann.

Stelle dich, soweit das ohne Kapitulation möglich ist, gut mit allen Leuten.

Sage deine Meinung ruhig und klar und höre anderen zu, selbst den Einfältigen und Unwissenden; auch sie haben etwas zu sagen.

Meide die Lauten und Aggressiven, sie sind eine Plage für Geist und Seele. Wenn du dich mit andern vergleichst, wirst du vielleicht hochmütig oder verbittert; denn es wird immer Größere und Geringere geben als dich.

Freue dich an deinen Leistungen wie an deinen Plänen. Vernachlässige deinen Beruf nicht, sei er noch so bescheiden; er ist ein fester Halt in den Wechselfällen des Lebens.

Sei vorsichtig in geschäftlichen Dingen; denn die Welt ist voller Lug und Trug. Aber lass dich davon nicht blind machen für das Gute, das es auch gibt; mancher kämpft für hohe Ideale, und überall ist das Leben voll Heldentums.

Sei du selbst. Vor allem heuchle keine Zuneigung. Sprich auch nicht zynisch über die Liebe; denn angesichts all der Schalheit und Ernüchterung ist sie unvergänglich wie das Gras.

Nimm den Rat der Jahre freundlich an, verzichte mit Anstand auf die Freuden der Jugend. Stärke deine innere Kraft, damit du gegen plötzliche Schicksalsschläge gewappnet bist. Aber quäle dich nicht mit Hirngespinsten.

Viele Ängste erwachsen aus Erschöpfung und Einsamkeit. Abgesehen von einer heilsamen Selbstdisziplin geh gelinde mit dir um.

Du bist ein Kind des Universums, nicht geringer als die Bäume und die Sterne; du hast ein Recht dazusein. Und ob du es begreifst oder nicht, das Universum entfaltet sich unleugbar, wie es soll.

Deshalb lebe in Frieden mit Gott, was du dir unter ihm auch vorstellst, wie hart du auch arbeitest, wonach du auch strebst; in dem lärmenden Wirrwarr des Lebens halte Frieden mit deiner Seele.

Trotz allen Blendwerks, aller Plackerei und aller zerbrochenen Träume ist es eine schöne Welt.

Sei auf der Hut. Kämpfe um dein Glück.

Max Ehrmann


Hunderttausendfach kopiert, weitergereicht von Hand zu Hand. Auf Postern und Karten abgedruckt, erreicht ein Text die Herzen unzähliger Menschen. Zunächst nur in den USA, doch bald in der englischsprachigen Weit bekannt, finden die DESIDERATA seit ein paar Jahren auch in Übersetzungen auf der ganzen Welt immer mehr Liebhaber.
Was hat es mit diesem Text auf sich? Warum berührt dieser Text, dessen Herkunft mit der Old Saint Paul’s Church in Baltimore und dem Jahr 1692 verbunden wird, so viele Menschen? Es ist eine bezaubernd schöne, treffende Lebensregel. Jeder, der den Text zum ersten Mal liest, hat ein Aha-Erlebnis, er fühlt sich sofort von ihm angesprochen und möchte ihm einen Platz in seinem Leben geben: Mit seiner schlichten Klarheit spricht er tiefe Wahrheiten gelassen aus. Man hat das Gefühl, wenn man nur einen Bruchteil beherzigte, würde das eigene Leben gelingen, würde man ein glücklicher Mensch werden.
Natürlich sind die DESIDERATA nicht 300 Jahre alt, und der Text braucht dieses Alter auch nicht, um seine Autorität zu gewinnen, da ihn jeder unmittelbar als wahr erkennen kann. Ein Missverständnis führte zu dieser Datierung. Das Gedicht stammt aus der Feder des Amerikaners Max Ehrmann (1872-1945): ein Enkel deutscher Auswanderer, ein Jurist, der nach dem Studium von Philosophie und Jura an der Harvard School of Philosophy lieber Dichter geworden wäre, doch sich als Anwalt seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Drei Jahre nach seinem Tod wurde unter dem Titel „The Poems of Max Ehrmann“ ein Gedichtband verlegt, in dem auch die DESIDERATA veröffentlicht wurden.
Seine Berühmtheit erhielten die DESIDERATA auf Umwegen: Frederic W. Kates, zwischen 1956 und 1961 Rektor der St. Paul’s Kirche in Baltimore, machte es sich zur Angewohnheit, Texte, die ihm besonders viel bedeuteten, nicht nur für sich in Anthologien zu sammeln, sondern diese auch al sonntäglich vervielfältigt in den Kirchenbänken für seine Gottesdienstbesucher auszulegen. So auch Max Ehrmanns 1927 verfassten DESIDERATA. Rektor Kates druckte das Gedicht auf dem Briefpapier seiner Kirche: „Old Saint Paul’s Church, Baltimore, founded 1692“, was zum Missverständnis bezüglich der Herkunft und des Alters des Textes bis auf den heutigen Tag führte. Einem oder mehreren Gemeindemitgliedern muss das denkwürdige Gedicht so gut gefallen haben, dass sie es ihrerseits vervielfältigten und weitergaben. Im Schneeballprinzip erreichte der Text ungeheure Verbreitung und findet auch heute noch seinen Weg in die Herzen der Menschen.
Posted by Jochen at 22:34
Kategorien: Lebensweisheiten